Der einzige Akteur
Versuch einer Annäherung   Dieser Text entstand als Beitrag für das Programmheft zur Produktion von "This is the End, my Friend" von Kurt Palm am Theater Phönix Linz. Uraufführung 17. März 2022.

1. Horror
Es stellen sich viele Fragen. Einige haben wir schon in diversen Ankündigungstexten und Pressemitteilungen angebracht, andere werfen die Gestalten auf der Bühne selbst auf. Doch eine entscheidende Frage bleib bisher umgestellt und unbeantwortet: Wer sind diese Menschen überhaupt?
Auch uns sind hier nur Spekulationen möglich, die acht oder neun Figuren – je nachdem, wie man zählt – bringen nicht mehr Geschichte mit, als sie auch im Laufe des Abends auf der Bühne preisgeben. Und genau das scheint der Punkt zu sein: Es sind aus der Zeit Gerissene, die nur noch Fetzen ihrer vorangegangenen Leben parat haben. Ihnen ist nicht nur ihr Zeitgefühl abhanden gekommen, vielmehr hat die Zeit selbst das aufgegeben, sich an ihre eigenen Prinzipien zu halten. „Vor zehn Jahren bin ich hierhergezogen“, stellt da jemand fest, nachdem scheinbar erst eine Stunde vergangen ist. Wir wissen nicht, was mit der Zeit passiert ist, aber wir vermuten, dass es irgendetwas mit diesem Raum zu tun hat. Und hier liegt der Kern des Horrors: Menschen kommen herein durch die einzige Tür, doch die verschiedenen Gestalten machen schnell klar, dass diese eine One-Way-Verbindung ist. Niemand verlässt den Raum, die Tür bleibt zu, außer wenn – so scheint es – neue Opfer gebraucht werden.
Im Hinblick darauf wird klar, dass der Horror vom Raum ausgeht und die Figuren mit ihrem so stark eingeschränktem Handlungsspielraum – ihnen bleibt nur, mit Erinnerungsfetzen verbal um sich zu schlagen – das Futter dieses Horrors sind. Das Besondere von „This is the End, my Friend“: Während alle Darsteller*innen in gleichen Maße entscheidende Szenen haben, ist deutlich, dass es nur einen Protagonisten gibt, den Raum. Dieser, irgendwo zwischen verlassenem Lungensanatorium und geschlossener Abteilung, also durchaus menschengemacht oder zumindest dem Menschengemachtem nachempfunden, ist der einzig wirkliche Akteur. Er ist der Einzige, der hier Entscheidungen trifft. Wir können wiederum nur spekulieren, weshalb er die Entscheidungen trifft, die er trifft, der Raum. Als mehrfach besetzter klassischer Heterotopos oder Sonderort, ein Raum zur besonderen Verwendung quasi, haben alle Bezüge, die bisher erwähnt wurden, eine gerissene Schutzfunktion inne. An dieser Stelle kommen wir am Ende wieder zur Ausgangsfrage zurück. Wer sind diese Menschen? Und wen beschützt der Raum vor ihnen?

2. Dystopie
Oder beschützt der Raum vielmehr unsere Gestalten vor irgendetwas oder irgendjemandem außerhalb dieser vier Wände? Ist dass Zimmer, in dem wir uns wiederfinden, in Wirklichkeit eine Art Projekt zur Sicherstellung des Fortbestandes? Dann ist allerdings offen, warum diese Menschen gerettet werden, weshalb gerade diese Figuren in ihrer teils absoluten Lethargie, teils unglaublicher Wut übrig bleiben sollen?
Wenn der Vorhang aufgeht, sind vier Menschen da, für sie gibt es keine Anzeichen einer Reaktion auf ihre Situation, woraus sich schließen lässt, dass sie a) schon eine Weile in ihr verharren – zumindest lang genug, um sich mit der scheinbaren Ausweglosigkeit arrangiert und zurecht gefunden zu haben – und b) die Situation / der Raum ihnen kein Leid zufügt, das größer ist, als jenes, das sie mit ihren Erinnerungen mit sich herumtragen. Auch miteinander ist das Konfliktpotenzial gering, die meisten Dispute scheinen aus der ewigen Wiederholung heraus zu entstehen. Denn: Noch bevor einer etwas sagt, wissen die anderen schon, was sie darauf antworten werden, so als ob sie die Gespräche mit sich selbst führen würden. Vielleicht sind sie verschiedene Versionen ein und derselben Figur, aus verschiedenen Zeiten und Phasen eines Lebens gegriffen und hier wie auf einer Art räumlich manifestierten Festplatte gespeichert, für die Ewigkeit. Hier setzt sich der Abend mit der Auswirkung von Zeit abseits von Aktivität auseinander. Die Zeit scheint die Figuren milde zu machen, wohingegen die vereinzelten Neuankommenden noch den Tatendrang verspüren, nach Auswegen zu suchen, ihnen ist alles neu, doch auch ihr Widerstand bricht im Laufe des Abends zusammen. Wenn wir also weiterhin den Raum als Akteur annehmen, kann man seine Handlungen und mit ihnen seine einseitige Bewegungsfreiheit auch als (fehlgeleitete) Rettungsaktion dieser Menschen interpretieren. Literaturwissenschaftlerin Eva Horn spricht von einer Erde ohne Menschen, wenn sie dystopische Zukunftsvisionen beschreibt. Was, wenn diese Welt auf genau solch eine Erde zusteuert und der Raum die letzten menschlichen Überbleibsel zu bewahren sucht, mit all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten? In diesem Lichtergeben auch ihre fetzenartig wiedergegebenen Erinnerungen eine neue Bedeutung: Aus einer möglicherweise in sich zusammenfallenden Gesellschaft entwischt, ergeben Symptome posttraumatischen Stresses durchaus Sinn, Erinnerungen an dieses Leben werden wie Versatzstücke vorgetragen, um unbewusst einMinimum an Stabilität zu erzeugen, wie temporär es auch sein mag.

3. Konsequenzen
Aber worum geht es wirklich – hinter dem Raum, der womöglich Menschen frisst oder Menschen vor ihren selbstverschuldeten Katastrophen (auf)bewahrt?
Geht man einen Schritt zurück, offenbaren sich auch hier Muster und Routinen, Routinen des Erinnernd, Aufregend, Ansetzen, Scheiterns und Aufgeben. Eine Art Antithese des bekannten Beckett-Zitats „Fail again. Fail better.“ Umgelegt auf Die Welt außerhalb der Bühne, was haben uns diese abgebrochenen Versuche des Aufbäumen wirklich zu sagen? Nun, es zeigt sich deutlich die zunehmende Abstumpfung dieser Menschen, die innerhalb eines Systems leben und interagieren müssen, welches sie gefangen hält – mehr mental und sozial als physisch, doch auch das gibt es bekanntlich – in einer ziellosen Beschäftigtest, die sie daran hindert, reale Aktionen mit realen Konsequenzen zu setzen.< /br> Unsere Figuren laufen auf der Stelle. Und wer auf der Stelle läuft, hat schnell keine Energie mehr und ist trotzdem nirgendwohin gekommen. Unter allem Horror und allem Klamauk wird also bald eine wirkliche Botschaft und möglicherweise auch eine Bitte sichtbar: Wir leben alle in diesem Raum auf dieser Bühne und er möchte, dass wir auf der Stelle laufen und uns verausgaben. Nur so kann der Raum bestand haben, nur so kann ihn niemand verlassen, den Raum. Der Raum ist der Kapitalismus, wir haben ihn gebaut.
März 2022