Lieber da

Lieber da


Sebastian durchquerte den Park, gemütlich, denn er hatte noch genug Zeit, es war mit den Jahren seine Art geworden, zu früh anzukommen. Lieber wartete er etwas auf seine Freunde, als dass er sie warten ließ. Auch wenn ihm das Warten Angst machte. Er war lieber da als nicht da.

Er ging mit dem Sack aus altem Tuch unter den blühenden Bäumen hindurch, die er so mochte, weil sie steinalt und doch immer jung waren, hin zu ihrem Platz. Er war wie immer der Erste. Seit Jahren trafen sie sich hier zum Boulespiel, das eigentlich Pétanque hieß, und seit Jahren war er der Erste, der sich hier am Sand einfand. Er setzte sich auf die alte Holzbank und holte die Kugeln heraus, um sie zu polieren. Das war sein Ritual, sein Ding. Vor dem Spielen mussten die Metallkugeln poliert werden. Er konnte sich an kein Spiel erinnern, bei dem unpolierte Kugeln einen Nachteil bedeutet hätten, aber sie brachten Pech. Also polierte er sie jedes Mal mit aller Sorgfalt. Er war ja ohnehin der Erste und es würde ihm einen unfassbaren Vorteil verschaffen, dessen war er sich sicher. Und es war schnell getan.

Die Bäume warfen schon Schatten, es war Nachmittag. Und Sebastian wartete. Ein leichter Wind, nicht mehr als eine angenehme Brise wehte ihm durch sein ergrautes Haar. Sie würde dem Spiel gut tun, wenn sie nicht stärker würde, aber sie würden aufpassen müssen, nicht gegen den Wind zu spielen. Die kleinen Vögel flogen auch mit dem Luftzug und er trug ihre Lieder über die Wege zum Sandplatz. Jetzt war eine gute Zeit, um zu spielen.

Der Mann stand auf. Immer nur auf Bänken zu sitzen, trug nichts bei, die Zeit verstreichen zu lassen. Irgendetwas musste man ja tun mit all den Momenten. Auf und ab gehen. Sie ließen sich heute Zeit. Das taten sie immer. Er war stets zu früh, die anderen stets zu spät. Es blieb ihm also nichts anderes zu tun übrig, als weiter zu gehen und den Schatten beim Wachsen zuzusehen.

Vielleicht hatte er sich in der Zeit geirrt. War schon wieder eine Zeitumstellung gewesen, die er verpasst hatte? Nein, die Kirchturmuhr gab ihm recht. Er war im Recht, aber da war er allein. Er polierte seine Kugeln noch einmal. Sein altes Gesicht spiegelte sich darin. Die Zeit war augenscheinlich nicht stehen geblieben. Hatte er einen Hinweis auf eine Absage verpasst? Bestimmt nicht, so etwas hätte er in seinen Kalender eingetragen.

Es war still. Die Kinder auf der Wiese hatten aufgehört, zu schreien. Sebastian sah, wie sie ihre Jacken, die sie als Fußballtore benutzt hatten, anzogen, einer spielte sich noch mit dem Ball. Sie würden wohl gemeinsam heimgehen. Auch die Vögel waren verstummt, ihm schien auch der Wind stärker geworden zu sein, unfreundlicher, kälter. Jetzt war nur noch er übergeblieben. Was würde er jetzt tun? Ein paar Würfe zur Übung machen. Aber was sollte das bringen? Er war nicht mehr der Erste, jetzt er war der Letzte.

Zusammenpacken wollte er nicht. Er konnte nicht gehen, es war ja nicht gesagt, dass die anderen nicht doch noch kämen, auch wenn es von Moment zu Moment unwahrscheinlicher erschien. Aber bis jetzt waren sie immer noch gekommen. Wenn er jetzt gehen würde, würde er sie verpassen. Und dann würden sie auf ihn warten. Dieser Gedanke trug potentielle Kopfschmerzen mit sich. Er durfte also nicht gehen, seine Freunde nicht aufgeben. Überhaupt sollte er sich wohl nicht weit weg begeben. Er setzte sich auf die Holzbank. Hier würde er bleiben und warten. Die Holzbank im Park war schon immer das Gefängnis für den vermeintlichen Rest gewesen.

Er würde sitzen bleiben, das wusste er jetzt. Sonst würde ihn die verpasste Chance irgendwann einholen. Er würde sitzen bleiben, bis er verschwinden würde. Für immer. Bis nichts mehr übrig blieb. Dann erst würden sie mit Sicherheit kommen. Zwickmühle. Das Warten machte Sebastian Angst. Doch er war lieber da als nicht da.

Ob er schon lange warte, fragten sie. Nein, gerade erst angekommen.

Dezember 2012