Eine topografische Bezugnahme
Dieser Text enstand als Beitrag für das Programmheft zur Produktion “Rückkehr nach Linz” am Theater Phönix Linz. Uraufführung 11. Mai 2023.
Der Titel dieses Stücks, dieses theatralen Spaziergangs ist “Rückkehr nach Linz”. Nun ist so ein Stücktitel immer, in diesem Fall jedoch insbesondere als eine Losung für den Abend zu verstehen. Denn bevor noch Texte oder Spielorte feststanden, stand auf einem Blatt Papier Rückkehr nach Linz als die erste Arbeitsgrundlage geschrieben. Zu dieser Arbeitsgrundlage gibt es eine Vielzahl an Zugängen. Menschen, die seit langen Jahren hier leben, aber von woanders hergezogen sind, mischen sich mit solchen, die erst seit Kurzem hier sind und jenen, die ihre ganze Jugend in Linz verbrachten, aber jetzt nur noch zu Besuch kommen. Und gerade diese Perspektiven machen den Spielraum auf, in dem sich dieser Abend bewegt. Denn mehr denn je ist Theater als Teil einer sich bewegenden Stadtgemeinschaft gefragt. Auch hierher also eine Rückkehr.
Der Titel “Rückkehr nach Linz” ist eine wenig getarnte Referenz an Didier Eribons richtungsweisendes Werk “Rückkehr nach Reims”. So wie Eribon die Rückkehr in seine Heimatstadt und in zurückgelassene Familienstrukturen zum Anlass einer sozio-demografischen Analyse und Ursachenforschung der Veränderungen in Reims nimmt, ist unser erstes Ziel die Veränderungen, die die klassische Arbeiterstadt Linz über die Jahre unter dem Schlagwort Kulturstadt durchgemacht hat, immer aus der Perspektive eines oder einer mit zeitlicher Distanz Zurückkehrenden, sichtbar zu machen und historische wie gegenwärtige Realitäten zu verstehen.
Eine Klimaaktivistin, die sich in einem Weltkriegsbunker für den langen Winter der Menschheit einrichtet, ein alleinerziehender Vater, der seinen Kindern in aller Überforderung die Gefilde der Jugend ihrer Mutter zeigen möchte. Auf solche Menschen treffen wir genauso wie auf einen Jungpolitiker, der im Begriff ist, seine Ideale einer vermeintlich steilen Karriere zu opfern und auf eine Lehrerin, die wie im Traume ihre erste Stunde durchlebt und eine Bestandsaufnahme eines unterfinanzierten Systems vornimmt. Irgendwo dazwischen, nirgendwo wirklich verhaftet und doch überall angebunden, findet sich ein Herumtreiber ein, der tagein tagaus das Viertel per pedem vermisst und seine Eindrücke und Erkenntnisse mit uns teilt.
All diese sehr unterschiedlichen Figuren haben ihren Platz, ihre Nische rund um die Wiener Straße gefunden, das ist es, was sie verbindet. Sie alle stehen in Verhältnis zum Viertel, weshalb sie auch in Verhältnis zueinander stehen. Sie gehen, genauso wie wir alle es tun, eine topografische Bezugnahme ein.
“Rückkehr nach Linz” ist aber auch sprechend dafür, dass hier ein Grätzl beleuchtet und begreifbar gemacht werden soll, das über die Jahre immer weiter aus dem Bewusstsein vieler Linzer:innen verschwunden ist. Die Gegend um die Wiener Straße, manchmal Makartviertel, manchmal Andreas-Hofer-Platz-Viertel gerufen und offiziell Bulgariplatzviertel genannt, ist einer der vielfältigsten Teile der Landeshauptstadt und hält neben einer unheimlich urbanen Dichte so manches ungesehene Juwel bereit. Es findet sich allerdings in einem transitorischen Zustand, von städteplanerischen Maßnahmen wahlweise noch nicht berührt oder zum Experiment auserkoren.
Ein gewisser Duktus des experimentellen Suchens findet sich auch in diesem Theatererlebnis wieder: Können fünf Figuren, fünf rückkehrende Gestalten, die theatrale wie soziale Tiefe dieses Viertels abbilden? Wir finden sie an Orten, die allesamt eben diese oben angesprochene transitorische Natur widerspiegeln, es sind “Sonderorte”, die einer Gesellschaft in Bewegung quasi entwachsen müssen, sie erfüllen für die Mitglieder einer solchen Gesellschaft eine Funktion, dann werden sie wieder verlassen. Deleuze und Guattari sprechen von glatten und gekerbten Räumen, die sich in ständigem Wandel befinden - viele Orte, an denen wir uns aufhalten, stehen an der Schwelle einer Glättung. Mit einem Akt performativer Arbeit, wie ihn Schauspieler:innen an diesen Orten leisten, erhalten sie neue Kerben. In gekerbten Orten kann gesellschaftliches Leben stattfinden, denn Kerben schaffen neue Oberflächen, an denen kollektives Denken möglich wird.
Theater ist fundamental ein Erlebnis, in dem das Einzelne seinen Platz in einem Kollektiven erfährt - “Rückkehr nach Linz” ist der Versuch, dieses Prinzip über die Türen des Theaterhauses hinaus zur Anwendung zu bringen. Das mag an mancher Stelle utopisch klingen, aber es ist eine Stoßrichtung. Eine Öffnung kultureller Räume kann nicht nur ein Einladen bleiben, als Teil der Stadt zu funktionieren erfordert ein aktives Kennenlernen dieser Stadt auf die Art und Weise, wie es nur Theater kann. Der Spaziergang erzeugt ein performatives Wissen, das nie fertig gedacht sein kann, das liegt in seiner Natur. Dieses tief im Körper verankerte Wissen bildet vielmehr eine Grundlage, auf der ganz im Gegenteil aufgebaut werden muss, immerfort.