Das große Verstellspiel
Über gesellschaftliche Kontrakte und das performative Potential von Geheimnissen
Dieser Text enstand als Beitrag für das Programmheft zur Produktion “Bunbury oder Die Bedeutung des Ernstseins” von Georg Büchner am Theater Phönix Linz. Premiere 30. April 2025.
Als Oscar Wilde seinen – wie sich herausstellen sollte – größten und theaterhistorisch nachhaltigsten Bühnenerfolg schrieb, konnte er in der Fundgrube seines eigenen unmittelbaren Lebens wahrlich aus dem Vollen schöpfen: Gerade war er in eine intensive Liebesbeziehung zu Lord Alfred Douglas verstrickt, die sein mit Bedacht konstruiertes, der Norm entsprechendes Familiendasein, welches im Auge der guten Gesellschaft wie ein Anker seines sonst so abweichenden Lebens fungierte, zunehmend bedrohte. Doch während ihm diese Affäre im echten Leben zum Verhängnis werden sollte, verstand es Wilde in der Kunst, aus der tragischen Notwendigkeit eines solchen Doppellebens – Ehe und Kinder an der Oberfläche, dahinter queere Beziehungen möglichst gut als bloße Freundschaften getarnt – eine Komödie herauszuschälen. Mit beißend genauem Blick auf die himmelschreiende Heuchelei einer Gesellschaft, die eine solche Notwendigkeit hervorbrachte, während so viel Unmoral sichtbar von allen akzeptiert wurde. Im Kern handelt das Stück „Bunbury“ vom tiefen Bedürfnis nach der Möglichkeit, sich selbst finden zu dürfen. Und genau darin liegt der Bunbury begraben, wie Algernon sagen würde. Denn wenn er seinen kränklichen Freund als Ausrede erfindet, macht er das, um sich ein klein wenig Luft im engen sozialen Korsett zu verschaffen. Was dadurch entsteht, sind mögliche Freiräume, die eine Klasse, die so viel Augenmerk auf das offen Dargebotene legt, plötzlich befähigt, Geheimnisse zu haben. Und diese Möglichkeit des Geheimnisses ist für sie vor allem eine Möglichkeit, sich selbst zu erproben. Damit machen die Mitglieder der guten Gesellschaft sich selbst heimlich zu Performer:innen und das Parkett zur alles umfassenden Probebühne, auf der die Selbstfindung und gewissenermaßen die Menschwerdung dieser jungen Leute, von denen sich der gute Ton vor allem schablonenartigen Gerhorsam und Fügung in die gerade geltenden Sitten erwartet, standfinden kann.
Doch das eigentlich größere Geheimnis als der Bunbury selbst dürfte die Tatsache sein, dass in diesem Stück jede und jeder einen persönlichen Bunbury hat. Denn er ist nicht nur ein geheimer Freiraum, der das Atmen ein bisschen leichter macht, er kann auch für eingefahrene Verhältnisse ein ungemein gefährlicher Sprengstoff sein: eine Perspektive.
Oscar Wilde schrieb mit „Bunbury“ eine Satire seiner eigenen Umgebung. Doch das Besondere und das, was dem Stück bis heute das Potential zur Rebellion eingeschrieben hat, ist, dass er sich entschied, eine Komödie zu schreiben. Denn wenn man sich all das virtuose Verstellen, die waghalsigen Lügen und absurden Wunschvorstellungen genau ansieht, wird deutlich, dass in all der Strenge, mit der der soziale Kontrakt vollstreckt werden will, an so mancher Stelle ein erkennendes Augenzwinkern aufblitzt.
Es ist das große Verstellspiel und vielleicht, nur vielleicht, wissen eigentlich alle Bescheid. Und dann wird die konventionelle Verwechslungskomödie plötzlich zu etwas ganz anderem. Plötzlich zeigt uns der große Sprachkünstler eine kleine Utopie auf, einen Ausweg aus viktorianisch-puristischen Zwängen. „Es ist heutzutage nicht leicht, irgendetwas zu sein“, spricht Algernon die Not der gesamten Dramatis personae aus. Hier eröffnet sich eine Möglichkeit, neue Spielarten des Zusammenlebens auszuprobieren und so einen Weg zu sich selbst zu finden.